SIMON PICHLER
„Kabarett – kann man das lernen?“
Anfang
der 80er-Jahre beschlossen Leo Lukas und ich, die Welt niederzureißen. Die kreativen Kräfte dieser Welt waren spärlich, und wir betrachteten uns als Universalexperten. Also wollten wir so ziemlich alles anbieten, was mit innovativem Hirn zusammenhängt: Computerspiele, Werbesprüche, Videos.
Ein Deutschlandsberger Lehrer bot uns an, einen Kabarett-Workshop mit der Schultheatergruppe durchzuführen. Selbstverständlich sagten wir zu. Nach ein bisschen Brainstorming und einer handvoll Notizen waren wir Experten. Der Rest würde sich im Lauf des Workshops entwickeln. So kam es denn auch. Der Workshop endete mit einer 45minütigen Aufführung und war – Sie erraten es – ein Riesenerfolg.
Was wir tatsächlich hatten, war der richtige Ansatz. Dieser lautete: Lass die Kreativität der TeilnehmerInnen kommen, dann geht's dahin. Wie man sie zum Fließen bringt – dazu haben wir im Lauf der Jahre eine Menge Techniken kennengelernt, abgeschaut, geklaut und auch selbst entwickelt. Vieles entnehme ich dem Improvisationstheater und Theatersport, aber auch dem „Theater der Unterdrückten“ nach Augusto Boal.
Heute bieten ja zahlreiche KollegInnen zumindest sporadisch Workshops an, damals war das noch ein weitgehend unbekanntes Territorium. Wer kam als Veranstalter in Frage? Also stellte ich mich in Graz vor jede AHS oder BHS und fragte SchülerInnen, die ein bisschen rebellisch aussahen, ob es an ihrer Schule aufgeschlossenere DeutschprofessorInnen gäbe. Ihre Tipps waren meistens gut.
Bald verbreitete sich die Kunde unter den DeutschlehrerInnen, und zur Finanzierung gab es damals noch den „Österreichischen Kulturservice“ – waren das Zeiten! Ich leitete Workshops in Wien, in Reutte, in Bischofshofen, wurde auch einmal für ein Hörspiel angefragt – und bei dem einen oder der anderen SchülerIn blieben Theater und Kabarett ein Thema fürs Leben. Die ersten Erwachsenen-Workshops waren dann auch solche für LehrerInnen.
Gleichzeitig wurde mein eigenes Interesse fürs „Theaters der Unterdrückten“ größer, und ich begann mit Non-written Theatre im Allgemeinen zu experimentieren. Für Kabarett-Workshops liegen die Vorteile auf der Hand: eine Idee wird ein- oder mehrere Male frei improvisiert, dann mit ein paar Regieanweisungen zu einer kompakten Szene geformt. Manchmal wird der Text wortwörtlich festgelegt, aber bei weitem nicht immer.
Leo traf auf einer Pressereise nach Kuba einen schwäbischen Unternehmensberater, den es nach Klagenfurt verschlagen hatte und der mit den damals so modernen Mitarbeitertrainings mit NLP-Techniken unzufrieden war. Schwupps, schon waren wir Mitarbeiter-Trainer mit Theatermethoden – auch das zog weite Kreise.
Blutjunge
Seit 1993 organisiere ich auch den Grazer Kleinkunstvogel, den ältesten und bedeutendsten Kabarett-Nachwuchswettbewerb im deutschen Sprachraum. Und im Jahr 2005 kam es zu einer bedeutsamen Entwicklung. Unter den Anmeldungen befanden sich gleich vier Fünfzehnjährige, darunter der Sieger dieses Jahrgangs, Clemens Maria Schreiner. Einzelne „Minderjährige“, wie z. B. Thomas Stipsits, waren schon in den Jahren davor aufgetaucht, aber diese plötzliche Entwicklung schien es mir wert, darauf zu reagieren.
Mit der ambitionierten Wiener HAK-Lehrerin Andrea Motamedi gründeten wir „Blutjunge“, eine Initiative, die über viele Jahre NachwuchskünstlerInnen im Schüleralter förderte und nicht nur Workshops, sondern auch zahlreiche öffentliche Austauschveranstaltungen organisierte – bis der Ansturm der Teens nach einigen Jahren aus ebenso unklaren Gründen wieder zu Ende ging.
Meine obersteirischen Jahre
Anfang der 2000er machte ich mich einmal in der Woche mit dem Frühzug auf in den steirischen Nordwesten. Am Vormittag arbeitete ich mit einer Schülergruppe der HAK und HIT Bad Aussee, am Nachmittag mit einer langjährigen Partie am CCW in Stainach.
Solche Arbeitsbedingungen wie in Aussee habe ich nie vorher oder nachher vorgefunden – wie ich überhaupt die Exotik des Steirischen Salzkammergutes bei dieser Gelegenheit kennen und schätzen lernen durfte. Damit die Arbeit mit dem angereisten Trainer so effektiv wie möglich ausfiel, wurden Schulstunden verschoben und SchülerInnnen aus dem Unterricht geholt. Nicht nur das, wir konnten die Gymnastikräume des damals aufstrebenden SV Bad Aussee im millionenschweren Panoramastadion nützen.
Die treibende Kraft dahinter war der leider zu früh verstorbene Dr. Erwin Kummer, dessen Umtriebigkeit weit über die Schule hinaus ging. Die Landesausstellung „Narren und Visionäre“ im Jahr 2005 kam da gerade richtig. Zunächst erarbeitete ich mit den SchülerInnen eine „Roadshow“, die durch einzahlreiche Schulzentren tourte und Werbung für die Landesausstellung machte, dann erarbeiteten wir eine moderne Version des Lustspiels „’S erschti Busserl“ des österreichischen Dialektautors Alexander Baumann und spielten dieses mehrmals täglich im Ausstellungsgelände. Die im Hut gesammelten Spenden stellten auch einen kleinen Sommerjob für die Jugendlichen dar. Und um die Ausseer Gruppe „Massaker“ und der Stainacher „OSCA“ („OberSteirische Cabaret Academy“) entstand „Ennstaler Eigenbau“, eine Mixed Show, in der u. a. auch der heutige Direktor des Wiener Theater im Alsergrund, Michi Auernigg, Erfahrung sammeln konnte.
Theaterarbeit im sozialen Feld wurde mein zweites Herzensanliegen und Fachgebiet neben Kabarett. Und als ich 2006 die Ausschreibung einer Kunsttrainer-Ausbildung für arbeitslose KünstlerInnen las, wusste ich, dass das auf keinen Fall ohne mich ablaufen durfte. Es ging um eine fünfmonatige Arbeit mit arbeitslosen Jugendlichen, finanziert von Land Steiermark, AMS und Europäischem Sozialfonds, und so stand ich eine recht chaotische Ausbildungsphase durch und erntete das zweite offizielle Diplom meines Lebens nach meinem Maturazeugnis – ich schimpfe mich „Kunsttrainer“. Und, viel wichtiger, ich war einer der sieben Auserwählten, die auf die Jugendlichen losgelassen wurden.
Hatte ich vorher gedacht, ich wüsste, was der Begriff „niederschwellig“ bedeutet, so wurde ich bei dieser Tour de Force – und erst recht bei der zweiten Auflage zwei Jahre darauf – eines Besseren belehrt. Nicht, dass ich mich über zu wenig Talent zu beklagen gehabt hätte – letztendlich gipfelte jedes Projekt in schönen Schlussaufführungen, und auch der gute Wille war den meisten PartizipientInnen nicht abzusprechen. Dass Substitol-BezieherInnen nach einer Stunde Arbeit allerdings oft einschliefen, nachdem sie eine Winternacht im besten Fall in einem Bankfoyer hinter sich gebracht hatten, stellte mich als Trainer vor bislang ungekannte Herausforderungen. Und eines Tages fand ich tatsächlich 0, in Worten Null, meiner Schützlinge vor. Das darf man einfach nicht persönlich nehmen. Am nächsten Tag waren eh wieder etliche da.
Und schließlich wurde die GEA-Akademie in Schrems auf uns aufmerksam. Gleichzeitig mit den Kabarett-Workshops boten wir dort „Konfliktbearbeitung mit Theatermitteln“ an und hatten anfangs gleich enormen Zulauf. Etliche aufstrebende KabarettistInnen, die man heute schon als Fixbestandteile der „Szene“ bezeichnen konnte, sind dort durch unsre Hände gegangen. Unter anderem habe ich dort den tollen Universalmusiker Markus Oswald kennengelernt, meinen jetzigen Bühnenpartner, der mir durch zwei weitere Workshops gefolgt ist, bis ich ihm einen künstlerischen Antrag gestellt habe.
Ist ein „Kabarett-Workshop“ nicht eigentlich ein Widerspruch in sich? Sind wir KabarettistInnen nicht heilfroh, dass es noch eine Kunstform gibt, wo unser Erfolg nicht davon abhängt, wie der Kabarett-Professor an der Kabarett-Hochschule uns benotet? Wo SchauspielerInnen mit geschliffener Sprechtechnik gleich viel Erfolg haben können wie DilettantInnen im guten Sinne des Wortes, wo wir uns nur von unsrem Publikum bewerten lassen müssen und von keinen Ämtern und Schulen? Zerstören wir diese letzte Bastion nicht mit unsren Workshops?
Wir versuchen zumindest das Gegenteil davon. Wir versuchen, dem jeweiligen Bühnen-Typ unsrer Schützlinge gerecht zu werden und das Beste herauszuholen. Einfache Bühnentechniken (deutlich sprechen, die Bühne ausnützen, nicht mit dem Rücken zum Publikum) müssen wir natürlich vermitteln – aber dann folgt sofort der Zusatz: Kabarett bietet die Möglichkeit, alle Grundgesetze über den Haufen zu werfen – wenn es bewusst und selbstbewusst geschieht.
Als Organisator des Grazer Kleinkunstvogels erlebe ich Jahr für Jahr das Wunder: trotz deutscher Comedy und Villacher Fasching gibt es immer wieder ganz neue, originelle Ansätze. Und es gibt keine Aufspaltung der Szene, Gutverdiener und Querköpfe treffen sich immer wieder in den gleichen Lokalen. Der Brotneid ist in wirklich erträglichen Grenzen geblieben, wenn man ihn mit dem Austropop-Intrigantenstadl vergleicht. Also, rasch auf Holz geklopft, die Ressourcen werden immer knapper, das Business immer dogmatischer.
Der Anfang ist besonders schwer, und auch das wird in unsren Workshops thematisiert. Welche Wege können gegangen werden, um an ein Publikum zu kommen, welche Medien sind unumgänglich, wie erkennt man einen unzuverlässigen Veranstalter, welche Software eignet sich für unser Geschäft? Für den 2021 erstmals abgehaltenen Workshop in der „Brücke“ in Graz hat mein Kollege Seppi Neubauer einen zweistündigen Vortrag mit ausführlichem Skriptum zu diesem Thema ausgearbeitet.
Schätze ich die Zahl der von mir geleiteten Workshops, komme ich auf rund 400, von „Schnuppereinheiten“ bis Jahresgruppen. Keiner läuft gleich ab, gewisse Elemente aber haben sich so gut bewährt, dass ich sie immer wieder gerne zur Anwendung bringe. „Hater’s Corner“, eine Erfindung von Leo Lukas, bei der man spontan und unvorbereitet eine einminütige Hass- oder Warnrede halten muss gegen etwas, was einem zugeteilt wird (z. B. Tulpen oder Karo-Muster) gehört hierher, wie auch die Verknüpfung eines aktuellen Themas mit einem Volksmärchen oder der Krimi, den die Schwarmintelligenz der Gruppe schreibt.
Leo und ich verstehen uns nach vier Jahrzehnten Zusammenarbeit weitgehend blind – was nicht heißt, dass wir in unsrem künstlerischen Geschmack eineiige Zwillinge wären. Leo leitet ja auch Schreibwerkstätten und studiert Konzepte wie die „Heldenreise“ nach Joseph Campbell und Christopher Vogler, während ich die Grenzgebiete zum therapeutischen Theater auszuloten versuche. Als Folge unsrer Workshops ist es zu zahlreichen Regiearbeiten für aufstrebende wie auch etablierte KünstlerInnen der österreichischen Kabarettszene gekommen.
Die Lockdowns haben uns natürlich auch in die Workshops hineingesch..., aber wir fühlen uns beide fit für noch ein paar Jährchen, in denen wir unsre Erfahrung weitergeben wollen. Denn: erstens sind wir zwar nicht mehr jung, brauchen aber das Geld, zweitens: tausende von begeisterten TeilnehmerInnen können Ihnen bestätigen, dass wir die besten sind, und drittens: „Kabarett – kann man das lernen?“ Was für eine Frage! Wen es wirklich ernsthaft zum Spaßen zieht, kann sich vielleicht ein paar Umwege ersparen.
© Simon Pichler, „Kabarett – kann man das lernen?“
In: Oesterreichisches Kabarettarchiv online, 2021.
Foto: © Ulrike Schweiger
Veröffentlicht am: 10. September 2021